Nach dem Ereignis: Die Zeit des Films

Nach dem Ereignis: Die Zeit des Films

Im Film – das war sein großes Versprechen – schien das Bild lebendig geworden zu sein. Doch diese Lebendigkeit ist trügerisch, weil sie sich doch konstitutiv im Moment der Betrachtung auf ein abwesendes Leben beziehen muss. Alle Versuche, sich der Echtzeit zu bemächtigen, scheiterten nicht nur an den technischen Mitteln, sondern an der Struktur von Zeit und Ereignis selbst, insbesondere am simplen Faktum, dass die Zeit nicht stehen bleibt. Der Film kann zwar einen Augenblick bannen, nicht jedoch seine Dauer fassen. Was man sieht, das sind vergangene Augenblicke und somit vergangenes Leben, und was man erfährt, das ist zuallererst das Vergehen der Zeit in der Betrachtung. Die Zeit des Drehs, der Produktion des Films insgesamt, die darin erzählte Zeit und die Zeit der Betrachtung lassen sich nicht vollkommen synchronisieren und nur bedingt „kristallisieren“ (Gilles Deleuze). Entscheidend für den Film ist vielmehr, dass er kategorisch zu spät kommt, dass er seinen eigenen Mythos, einem Ereignis Dauer verleihen zu können, nicht entsprechen kann. Er teilt diese Struktur mit dem Ereignis selbst, dass auch nie im reinen Augenblick aufgeht und gleichsam immer erst im Augenblick danach zum Ereignis werden kann. Psychoanalyse und Film teilen diese gemeinsame Struktur einer konstitutiven Nachträglichkeit. Diese Gemeinsamkeit ist nach 1968 zum Ausgangspunkt einer Reihe von filmischen Versuchen geworden, die Nachträglichkeit des Ereignisses – die Revolution – zu denken.

Filme:

Rainer Werner Fassbinder, Warnung vor einer Heiligen Nutte, 1969

Jean-Luc Godard, Ici et Ailleur, 1970/74

Lizzie Borden, Born in Flames, 1982

Literatur:

Thomas Elsässer, „Leben als Bewegung: Kino, Energie, Entropie“ in: Maria Muhle, Christiane Voss (Hg.) Black

Box Leben, Berlin (August) 2017; S. 153 - 180

Gilles Deleuze, Das Zeitbild. Kino 2, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996

Timothy Murray, Like a Film: Ideological Fantasy on Screen, Camera and Canvas, 1993

Peter Geimer, Die Vergangenheit der Kunst: Strategie der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert, 2002

Jean Laplanche, “Notes on afterwardsness”, in: Jean Laplanche, Essays on otherness. London, New York (Routledge)1999

Friedrich-Wilhelm Eickhoff, „Über Nachträglichkeit. Die Modernität eines alten Konzepts“, in: http://www.wolfgang-loch-stiftung.de/documents/JB%2051_WL_Eickhoff.pdf