Das Proseminar fragt nach den Grenzen des Realismus – in Texten (post-)marxistischer, poststrukturalistischer AutorInnen genauso wie in aktuellen Theorien sogenannter „Neuer Realismen und Materialismen“: Worin besteht der Realismus der Grenzen, die die darin entwickelten Aufteilungen und Beziehungen von Natur und Kultur, von Denken, Sprechen und Handeln, von Differenz, Wiederholung und Geschichte bestimmen? In gemeinsamen Lektüren werden wir unterschiedliche Logiken und Narrative der Relationierung, der Aufteilung und des Ausschlusses erarbeiten, die in den ausgewählten Texten jeweils unter dem Topos eines Realismus bzw. unter dem Vorzeichen dessen Kritik beansprucht werden.
Karen Barad entwickelt eine Theorie der Grenze in „materiell-diskursiven Praktiken“, die dazu ansetzt, endlich die allzu große „Macht der Sprache“ zu beschränken, die stets zu Lasten der „Materie“ überwog. Dieser Vorwurf ist u. a. zu vergleichen mit der Idee eines bloßen „Wirklichkeits-“ bzw. „Realitätseffekts“ bei Roland Barthes: In Das Rauschen der Sprache und in Die Vorbereitung des Romans im Rahmen einer postmodernen Theorie der AutorInnenschaft beschrieben, scheint sie Barads „Agentiellem Realismus“ und deren Sprachkritik genau entgegengesetzt zu sein.
Lässt sich dieser Gegensatz (dennoch) im Horizont der Idee einer „reinen Objektivität“ nach Georg Lukács diskutieren und womöglich komplementär aufeinander beziehen? Dieser artikuliert damit den politischen Anspruch, die Kategorien des Epistemischen, Politischen und Ästhetischen differenzlos zu verschmelzen. Kann dieser Vorstoß der Entdifferenzierung und objektiven Entgrenzung als vorweggenommenes Echo des „Agentiellen Realismus“ heute erscheinen? Statt einer Selbstbegrenzung durch bürgerliche Rationalität gilt es nach Lukács, deren Kategorien zu manipulieren, in Anerkennung der Fluidität der Bedingungen von Erkenntnis überhaupt – oder, wie Barad formuliert: „Beim Tätigsein geht es um die Veränderung von Veränderungsmöglichkeiten“ – bloße Arbeit verdoppelt sich so in die Arbeit an den eigenen Bedingungen, während sich jeder Anspruch an eine eindeutige subjektive Position und damit an das Produktive der Differenzen aufzulösen scheint. Gerade hier gilt es, Lukács Anspruch an „Objektivität“ und ihre zeitgenössischen Aktualisierungen mit ihren poststrukturalistischen Gegenstimmen im Sinne eines Denkens der Differenz zu kontrastieren bzw. abzugleichen: Immerhin geht z. B. Jacques Derridas Dekonstruktion (der Sprache) auch einher mit seinen in Marx’ Gespenster an diese gerichteten (ontologischen und historisch-politischen) Fragen: Was ist Spuk? Aber was ist Arbeit? Sie stellen sich gerade dann, wenn auch die Frage nach dem Realen folgendermaßen wiederkehrt: „Damit es Spuk gebe, bedarf es einer Rückkehr zum Leib, aber zu einem abstrakteren Leib denn je.“ (Derrida)
Unsere Lektüre wird ihren Ausgang nehmen von der Faszination dieser Doppeldeutigkeiten, Berührpunkte und scheinbaren Gegensätze, mit deren Hilfe wir uns Begriffen bzw. Problemen des Realismus nähern werden. Es gilt, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und inhärente Widersprüchlichkeiten scheinbar entgegengesetzter Ansprüche und ihrer Voraussetzungen herauszuarbeiten und Kritikpunkte neuster (materialistisch-realistischer) Theoriebildungen an ihren (poststrukturalistischen) Gegenpositionen möglicherweise anders zu verorten bzw. (für uns selbst) produktiv zu machen.
Das Proseminar versteht sich als Vertiefung des Schwerpunkts „Realismus“ der Abteilung Kunsttheorie im Sommersemester und bietet sowohl einen Rahmen für genaue gemeinsame Lektüren, aber auch für die Diskussion aufkommender Fragen in Bezug auf die jeweils eigene künstlerische oder gestalterische Praxis. Es kann begleitend zur Vorlesung und zu den Seminaren von Helmut Draxler oder unabhängig davon besucht werden.
Literatur:
Karen Barad, Agentieller Realismus, Berlin (Suhrkamp) 2012
Roland Barthes, „Der Wirklichkeitseffekt“, in: R. B., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2005, S. 164 – 172
Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2016
Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, (Suhrkamp) 2014
Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2016
Emmanuel Alloa, „Philosophie und Ästhetik. Poststrukturalistische Perspektiven“, in: Juliane Rebentisch (Hg.), Denken und Disziplin. Workshop der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, 2017, http://www.dgae.de/wp-content/uploads/2017/06/dgaeX_dud_alloa.pdf
Jörn Etzold, „Einflüsse: Hegel, Marx, Lukács“, in: J. E., Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord, Zürich-Berlin (diaphanes) 2009
Georg Lukács, „Kunst und objektive Wahrheit“, in: Wolfhart Henckmann, Ästhetik, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1979, S. 341 – 390
Georg Lukács, Essays über Realismus, Neuwied und Berlin (Luchterhand) 1971
Oliver Marchart, „Beantwortung der Frage: Was heißt Post-Marxismus?“, in: http://sammelpunkt.philo.at:8080/65/1/postm.htm
Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus, Berlin (Suhrkamp) 2014
Armen Avanessian (Hg.), Realismus Jetzt, Berlin (Merve) 2013