Der Wert der Form und die Form des Werts

Der Wert der Form und die Form des Werts

Formalistische ästhetische Theorien setzen für gewöhnlich voraus, dass der Form ein Wert, ein ästhetischer Wert zukomme; marxistische Theorien wiederum setzen voraus, dass dem Wert eine bestimmte Form entspräche, die Wertform, von der Marx spricht. Was aber verleiht der Form einen Wert, und welche Form kann ein Wert überhaupt annehmen? Ist die Form nicht das, was sich jeder inhaltlichen Bestimmung und damit jeder Bewertbarkeit durch diese entzieht? Und kennzeichnet der Wert nicht genau das, was über jede formale Begrenzung hinausweist auf ein Universum des Sinns?

Fehlt es also nicht genau an einer Begründung von beidem, Form wie Wert?

Form- und Wertbegriff erfahren im Laufe des 19. Jahrhunderts eine radikale Neubestimmung ihren antiken Vorläufern gegenüber. Sie werden zu Kampfbegriffen zwischen Kant und Wölfflin in Bezug auf die Form, zwischen Marx und Nietzsche mit Hinblick auf den Wert; dabei versuchen sie, sich selbst zunehmend absolut zu setzen in ihrer jeweiligen Ansprüchen an Bestimmtheit oder Unbestimmtheit, an Mangel oder Fülle. Derart wollen sie ästhetische, moralische, politische oder ökonomische Einsätze neu begründen, und eine Fundierung der Welt im Namen der Form oder des Werts leisten.

Doch die Umformung aller Formen und die Umwertung aller Werte kann nicht gelingen, weil jeweils die Voraussetzungen der Form im Wert und des Werts in der Form nicht mitgedacht wurden. Immer noch zutiefst in diese Kämpfe verstrickt böte sich an, das dialektische Moment zu suchen, das Form und Wert miteinander verknüpft, um von hier aus das Konfliktfeld etwa zu entzerren und neue Ausblicke zu gewinnen.

 

Literatur:

Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg 1997.

Rudolf Burger, „Die Inflation der Werte“, in: https://www.diepresse.com/3829008/die-inflation-der-werte

Cornelius Castoriadis, "Wert, Gleichheit, Gerechtigkeit, Politik. Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns," in: Cornelius Castoriadis, Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983.

Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt am Main (EVA) 2013.

Rodolphe Gasché, The Idea of Form: Rethinking Kant’s Aesthetics, Standford, CA (Stanford University Press) 2003.

Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2003.

Jutta Held, Norbert Schneider, Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2007.

Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1999.

Markus Klammer, Malika Maskarinec, Rahel Villinger, Ralph Ubl (Hg.), Formbildung und Formbegriff. Das Formdenken der Moderne, Paderborn (Wilhelm Fink) 2019.

Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, Berlin (Duncker und Humblot) 2020.

Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven, Frankfurt am Main, New York (Campus) 2008.