„der nackte Wahnsinn“/“Philosophie des Wahnsinns“

„der nackte Wahnsinn“/“Philosophie des Wahnsinns“

In diesem Seminar beschäftigen wir uns mit Wouter Kusters Buch „A philosophy of Madness“, indem er sich mit den Erfahrungen seiner eigenen Psychose aus philosophischer Sicht auseinandersetzt. Aus Kusters Sicht stellt sich der „Wahnsinn“ nicht als eine neurologische oder psychologische Störung dar, sondern als eine genuin philosophische Herausforderung. Die Psychose zeigt uns, dass wir die Welt auch ganz anders erfahren können als wir zumeist glauben, und fordert die „Normale“ und die Philosoph*in heraus, viele Annahmen zu hinterfragen: bpw. die Existenz einer extrapsychischen Realität oder Annahmen zur Natur von Zeit und Raum und Sprache.

Für Kusters haben Philosophie und Wahnsinn erstaunlich viel gemein: Beide beginnen mit einer Entfernung von unserer Realität, und versuchen Erklärungen für das vermeintlich Selbstverständliche zu finden. Aus dem Blick von Psychose und Philosophie erscheint uns schließlich die Normale genauso erklärungsbedürftig wie die Wahnsinnige, die Realität vielleicht nur als ein gemeinsamer Wahnsinn. Wer beispielsweise erfahren hat, dass sie oder er sich in der Zeit hin und her bewegen kann wie im Raum, für diejenige stellt sich die Frage, warum die Zeit für die meisten von uns nur in eine Richtung zu fließen scheint. Und stimmt das überhaupt immer – etwa wenn wir träumen?

Durch eine Kombination von erstpersonalem Bericht und philosophischer Reflexion gelingt es Wouter Kusters, auch (wie er schreibt) „Außenseitern“ die Welt der Psychotiker*in verständlich zu machen – nicht zuletzt durch Analogien und Beispiele, in denen unser Leben, etwa wenn wir träumen oder verliebt sind, garnicht so normal ist, wie wir selber glauben.

In unserem Seminar wollen wir uns nicht nur philosophisch mit der Erfahrung des Wahnsinns beschäftigen, sondern auch einen verrückten Einstieg in die Philosophie wagen. Seit Kant ist eine der zentralen Fragen der Philosophie nichtmehr „Was ist die Realität, die Zeit oder der Raum“, sondern „Wie entsteht eine gemeinsame Realität? Wie entsteht aus Erlebnissen, Erinnerungen und Erwartungen die Erfahrung einer kontinuierlichen Zeit?“. Wenn diese „antirealistische“ Philosophie mit unserer alltäglichen Überzeugung einer gegebenen, unabhängigen Realität bricht, so verbleibt sie doch dabei, zumeist eine Realität, eine Natur der Zeit, und eine Natur des Raums anzunehmen. Dieser bias, der die Vielfalt an Formen von Realität, Zeit und Raum ignoriert, erschwert oft den Einstieg und das Verständnis in die moderne, europäische Philosophie. In diesem Seminar wollen wir herausfinden, ob wir die Fragen der Philosophie aus einer ver-rückten Perspektive nicht besser verstehen können.

Neben der Lektüre von Kusters werden wir kürzere Auszüge klassischer philosophischer Texte (Kant, Husserl, Foucault) lesen. Je nach Interessenlage können wir psychoanalytische und andere philosophische Texte hinzuziehen (Lacan, Deleuze/Guattari). Darüberhinaus soll es ausreichend Raum für die Frage geben, ob und inwiefern, nicht nur die Philosophie, sondern auch künstlerische Praktiken als etwas verstanden werden können, das den Wahnsinn verständlich macht, indem sie die Normalität ver-rückt. Die Teilnehmer*innen sind herzlich eingeladen, eigene oder fremde künstlerische Arbeiten, sowie eigene Fragestellungen und Auseinandersetzungen mit dem Thema in die gemeinsame Diskussion einzubringen.