Wo sich die europäische Philosophie überhaupt mit dem Körper auseinandergesetzt hat, ist sie meist an der Oberfläche geblieben. So geht bleibt die Phänomenologie des Leibs, etwa bei Merleau-Ponty an der Oberfläche der Haut und ihrer Wahrnehmungsorgane. In diesem Seminar wollen wir uns mit den Un-Tiefen des Körpers beschäftigen, die wir nur diffus und selten wahrnehmen und kaum bewusst ansteuern können: mit den inneren Organen, mit Darm und Gehirn.
Die Körpertiefen sind in der Feministischen und Queer-Theorie, aber auch in der Populärliteratur zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die Tiefen unseres Körpers konfrontieren uns mit einem Paradox: Obwohl wir es mit unserem Innersten zu tun haben, das unsere Stimmung, unser Denken und Wahrnehmen prägt, sind sie oft nur durch Krankheit, wissenschaftliche Modelle, operative Eingriffe oder Beobachtung an anderen zugänglich. Ja, unser Innerstes kann uns unbekannt, störend, fremd oder sogar bedrohlich vorkommen. Unser Innerstes ist nicht unser Eigenstes.
Zwar entzieht sich das Körperinnere oft der Wahrnehmung und dem Zugriff des Subjekts – das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht in enger Beziehung zum psychischen Unbewussten und zu den symbolischen und sozialen Ordnungen stehen, in denen wir leben. Der stumme Zwang des Kapitalismus steckt in den Schultern, die Erwartungen der Eltern führen in der Lunge ein Eigenleben, das symbolische Geschlecht ist verwachsen mit Hormonen und Organen. Zwei Formen von Anonymität, die von innen und von außen unsere Welt strukturieren, verflechten sich hier gleichsam in unserem Schatten: Die Anonymität sozialer Ordnungen, die zu groß und fern für unsere Wahrnehmungs- und Handlungssphäre sind, und die Anonymität der tieferen Organschichten, die zu klein und zu nah dran sind für uns.
In unserem Seminar wollen wir uns vor allem mit dieser merkwürdigen Zwischenzone beschäftigen, in der die Anonymität des Körpers mit der Anonymität des Gesellschaftlichen kommuniziert. Neben phänomenologischen Autor*innen (Maurice Merleau-Ponty, Drew Leder) und psychoanalytischen Texten zur Psychosomatik (Eckart Leiser) wollen wir uns mit Texten von Elizabeth Wilson („Gut Feminism“), Catherine Malabou (Was tun mit unserem Gehirn?) beschäftigen.
Eine Lektüreliste wird am Beginn des Seminars ausgegeben.